Ein Winterabend

Adventskalender 2021 – Türchen 11

Georg Trakl (1887 – 1914)

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
lang die Abendglocke läutet,
vielen ist der Tisch bereitet
und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft
kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
auf dem Tische Brot und Wein.

Christbaum

Adventskalender 2021 – Türchen 9

Ada Christen (1839 – 1901)

Hörst du auch die leisen Stimmen
aus den bunten Kerzlein dringen?
die vergessenen Gebete
aus den Tannenzweiglein singen?

Hörst du auch das schüchternfrohe,
helle Kinderlachen klingen?
Schaust auch du den stillen Engel
mit den reinen, weißen Schwingen?

Schaust auch du dich selber wieder
fern und fremd nur wie im Traume?
Grüßt auch dich mit Märchenaugen
deine Kindheit aus dem Baume?

Nikolausgedicht

Advent 2021 – Türchen 6

Verfasser unbekannt

Nikolaus, du guter Mann,
hast einen schönen Mantel an.
Die Knöpfe sind so blank geputzt,
dein weißer Bart ist auch gestutzt.
Die Stiefel sind so spiegelblank,
die Zipfelmütze fein und lang.
Die Augenbrauen sind so dicht,
so lieb und gut ist dein Gesicht.

Du kamst den weiten Weg von fern
und deine Hände geben gern.
Du weißt, wie alle Kinder sind:
ich glaub‘, ich war ein braves Kind,
Sonst wärst du ja nicht hier
und kämest nicht zu mir.

Du musst dich sicher plagen,
den schweren Sack zu tragen.
Drum, lieber Nikolaus,
pack‘ ihn doch einfach aus.

Adventslicht

Advent 2021 – Türchen 4

Agnes Harder (1864 – 1939)

Ich bin das Lichtlein, das erwacht
in der dunklen Winternacht.
Die Menschen gingen so gebückt;
doch als das Lichtlein sie erblickt,
da wussten sie: es kommt die Zeit,
da werden alle Herzen weit,
und alle Augen werden hell,
und alle Füße laufen schnell;
denn mitten aus dem Winterleid
entsteht die liebe Weihnachtszeit.

Der Abend kommt

Advent 2021 – Türchen 2

Reiner Maria Rilke (1875 – 1926)

Der Abend kommt von weit gegangen
durch den verschneiten, leisen Tann.
Dann presst er seine Winterwangen
an alle Fenster lauschend an.

Und stille wird ein jedes Haus:
die Alten in den Sesseln sinnen,
die Mütter sind wie Königinnen,
die Kinder wollen nicht beginnen
mit ihrem Spiel. Die Mägde spinnen
nicht mehr. Der Abend horcht nach innen,
und innen horchen sie hinaus.